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Lust auf Experimente

© Fraunhofer IIS/Pulkert ©

Wie bleiben stationäre Einzelhändler attraktiv für ihre Kunden? Maximilian Perez Mengual vom Forschungsinstitut Fraunhofer IIS untersuchte in einer Studie, welche Handelskonzepte besonders erfolgreich sind.

Von EVA ELISABETH ERNST, IHK-Magazin 01/2023

Herr Perez Mengual, Sie haben erforscht, wie ein »großer Wurf im Einzelhandel« gelingt. Was verstehen Sie darunter?

Ein großer Wurf führt zu einer optimierten, zukunftsweisenden Wertschöpfung mit konkretem Nutzen für die Kundinnen und Kunden. Dabei handelt es sich um eine substanzielle Veränderung des Geschäftsmodells mit neuen Prozessen und neuen Wertversprechen, aber mit einem ganzheitlichen Ansatz: Es geht nicht nur darum, neue Technologien einzuführen, sondern vielmehr um konsequente Weiterentwicklungen des Vorhandenen.

306 Einzelhandelskonzepte analysiert

Wie haben Sie solche Erfolgskonzepte ermittelt?

Wir haben uns zunächst einmal selbst gefragt, was einen großen Wurf ausmacht, und uns dafür entschieden, systematisch anzuschauen, über welche Innovationen der Einzelhandel spricht. Dazu haben wir handelsnahe Medien, Branchen-Newsletter sowie die Gewinner von Handelswettbewerben, wie etwa »Handel im Wandel« der Rid-Stiftung, ausgewertet. Ergänzt wurde dies durch Sammlungen von Fallstudien von Handelsorganisationen, -verbänden und -experten. Insgesamt haben wir 306 Einzelhandelskonzepte identifiziert. Anschließend haben wir analysiert, wie innovativ, übertragbar und wirtschaftlich nachhaltig diese Konzepte sind. In Experteninterviews mit Händlern, Wissenschaftlern, City-Managern und Vertretern von Verbänden haben wir anschließend die 22 besten Ansätze diskutiert.

»Nicht alles, was glitzert, ist auch wirklich gut«

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Es wurde sehr kritisch hinterfragt, ob und wie sich einzelne Technologien sinnvoll einsetzen lassen. Digitalisierung ist natürlich wichtig, sollte aber nicht Selbstzweck sein. Spannend war es auch, zwischen Showeffekten und tatsächlicher Wertschöpfung zu trennen. Denn nicht alles, was glitzert, ist auch wirklich gut. Letztlich haben wir sechs große Trends oder Entwicklungspfade identifiziert: Erlebnisorientierung, Omnichannel, Self-Check-out, 24-Stunden-Öffnungszeiten, digital unterstützte Customer Journey und Nachhaltigkeit (siehe Kasten unten »6 Trends für den Einzelhandel«).

Erfolgsfaktor Experimentierfreude

Welche Erkenntnisse waren für Sie besonders überraschend?

Ich finde es sehr interessant, dass die erfolgreichsten der von uns untersuchten Projekte eher weniger komplette Neuentwicklungen waren, sondern vielmehr konsequente Weiterentwicklungen von Traditionsunternehmen, entstanden aus einem hohen Maß an Unternehmergeist und der Lust am Experimentieren. Denn auf der Fläche zeigt sich der Wert einer Innovation sehr schnell. Zudem haben Händler ein gutes Bauchgefühl, was bei ihren Kunden ankommt.

Was sollten Händler beachten, wenn sie an einem »großen Wurf« arbeiten?

Die in der Studie definierten sechs Entwicklungspfade können als Basis der Überlegungen fungieren. Ein passgenaues Konzept für alle gibt es jedoch nicht. Jeder Händler muss selbst definieren, was für ihn relevant ist, und dann seinen eigenen Weg gehen. Wichtig ist es, zu experimentieren und auch wieder zurückzurudern, wenn etwas nicht funktioniert. Jede Innovation muss zum Geschäftsmodell, aber auch zur Persönlichkeit eines Händlers und den Kompetenzen im Unternehmen passen.

Gerade kleinere Händler sollten sich jedoch nicht einschüchtern lassen. Es muss nicht immer die 1-a-Lösung sein. Clevere Kombinationen und Konzepte funktionieren bei Unternehmen aller Größenordnungen. Ein gewisses Investment gehört allerdings immer dazu: Ganz ohne Geld und Personal lässt sich kein großer Wurf realisieren.

Zur Person: Maximilian Perez Mengual

Maximilian Perez Mengual (36) verantwortet das Forschungsfeld Retail Innovation der Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS in Nürnberg. Er war Projektleiter der Studie »Wie gelingt ein großer Wurf im Einzelhandel?«, die das Fraunhofer IIS im Auftrag der Günther Rid-Stiftung für den bayerischen Einzelhandel erstellte. 

6 Trends für den Einzelhandel

Die Studie »Wie gelingt ein großer Wurf im Einzelhandel?« identifizierte sechs große Entwicklungspfade. Viele erfolgreiche Ansätze kombinieren gleich mehrere dieser Trends zu einem stimmigen Gesamtkonzept:

  1. Erlebnisorientierung: Im stationären Einzelhandel der Zukunft geht es um mehr als die reine Kauftransaktion. Das Anschauen, Anfassen, Ausprobieren, also reale Interaktionen mit Produkten, ergänzt um Services, die zum Sortiment passen und einen echten Mehrwert bieten, gewinnen an Bedeutung.
  2. Omnichannel: Digitale und stationäre Handelswelten verschmelzen immer stärker zu einer konsistenten Customer Experience über alle gewählten Kanäle hinweg.
  3. Self-Checkout: Werden Funktionen wie etwa das Bezahlen und die Warenkontrolle durch Technik ergänzt oder ersetzt, hat das Ladenpersonal mehr Zeit für qualifizierte Beratung. Aus Kassenbereichen werden Beratungs- und Verweilzonen mit hoher Aufenthaltsqualität.
  4. 24-Stunden-Öffnungszeiten: In Form von komplett automatisierten Geschäften für Produkte des persönlichen Bedarfs oder als sogenannte Hybrid-Stores, in denen die Kundschaft dank automatisierter Kaufprozesse auch nach Ladenschluss noch einkaufen kann.
  5. Digital unterstützte Customer Journey: Digitale Technologien im Laden bieten Kunden Inspiration und Informationen. Transaktionsdaten werden erhoben, analysiert und bewertet.
  6. Nachhaltigkeit: Dazu zählen nicht nur umweltfreundliche Produkte und Wertschöpfungsketten inklusive Reparaturservices, Verleih- oder Recyclingprogramme. Wichtig ist auch Wertschätzung den eigenen Mitarbeitenden gegenüber sowie Engagement für die Stadt und die Gesellschaft der Zukunft.

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