Test für neue Ideen

Mit Simulationstechniken können Unternehmen die Entwicklung von Produkten beschleunigen und Ressourcen einsparen: zwei Beispiele.
Josef Stelzer, Ausgabe 11/20
Extreme Vibrationen? Hochvakuum? Besonders tiefe oder sehr hohe Temperaturen? Kein Problem. Simulationstechniken können viele Situationen nachbilden – auch das Innere einer Rakete beim Start und ihre Umgebung. In der Raumfahrt liegt der Vorteil auf der Hand: Im Vergleich zu einem echten Raketenstart ist eine Simulation ungleich günstiger und ressourcensparender. Aber auch in anderen Branchen sind Computersimulationen längst erfolgreich im Einsatz, etwa für die Produktentwicklung und Produktionsplanung. Zwei Beispiele aus der Praxis zeigen, wie Unternehmen Simulationen einsetzen.
Fahrzeugbau: Bedienelemente optimieren
Vielfach bewährt haben sich Simulationstechniken in der Produktentwicklung. In der Regel bauen Ingenieure Prototypen erst zusammen, nachdem sie ihre Ideen vorab mit Computerhilfe ausgiebig testen konnten. Bei der Münchner MAN Truck & Bus SE ergründen die Entwickler auf virtuellen Touren mit Lkw-Fahrern, worauf es bei einem neuen Fahrerhaus ankommt. »Die Arbeitsplätze am Lenkrad sollten samt Sitz sowie allen Anzeige- und Bedienelementen möglichst komfortabel und ergonomisch ausgelegt sein«, erklärt Holger Mohra (42), der bei MAN die Entwicklung von Fahrzeugfunktionen, Ergonomie, Anzeige- und Bedienkonzepten leitet. »Die Fahrzeugbedienung muss es ermöglichen, dass der Fahrer ständig das Verkehrsgeschehen im Blick hat.«
Überprüfen lässt sich das in zwei Fahrsimulatoren mit vereinfacht aufgebauten, aber »echten« Fahrerkabinen in der Entwicklungsabteilung in München. Die Testfahrer, die in der Regel nicht bei MAN beschäftigt sind, sitzen bei diesen Simulatorstudien am Lenkrad und steuern virtuell per Computer und einer vor der Kabine aufgestellten Projektionsleinwand durch wechselnde Verkehrssituationen.
So sind sie beispielsweise auf einer Landstraße mit Gegenverkehr unterwegs. Mithilfe einer speziellen Blickvermessung wird getestet, ob der Fahrer auf die Anzeigen am Armaturenbrett blickt und wie lange er sich vom Verkehrsgeschehen abwendet. Ob die per Simulation gewonnenen Gestaltungsideen für neue Schalter, Bedienhebel oder andere Bauteile praxistauglich sind, lässt sich schnell überprüfen. Mittels Rapid-Prototyping-Verfahren und modernen 3-D-Druckern können in kürzester Zeit Kunststoffmodelle angefertigt werden. Rund 750 Lkw-Fahrer brachten bisher in den Fahrsimulationen ihre Erfahrungen ein und halfen so bei der Neugestaltung der Fahrerkabine mit.
Ganz nah dran am Arbeitsalltag der Fahrer
»Für die Entwicklung von Lkw-Cockpit und Fahrerhaus orientierten sich die Ingenieure von Anfang an am Arbeitsalltag der Fahrer«, so Mohra. Ein Ergebnis: In der neuen Truck-Generation entfällt die Mittelkonsole, sodass viel mehr Platz für den freien Durchstieg zur Beifahrerseite und in den Wohnbereich zur Verfügung steht. Entwicklungsleiter Mohra bringt den Nutzen der Simulationstechniken auf den Punkt: »Wir erkennen damit mögliche Irrwege lange vor dem Serienstart und gewinnen neue Ideen.« Dies erhöhe die Produktqualität und helfe zugleich bei der Kostensenkung und der Ressourceneinsparung.
Denkbar ist, dass im Rahmen der Fahrzeugentwicklung künftig vermehrt Virtual-Reality-Technologien zum Einsatz kommen, mit denen das Prozedere noch effizienter wird. Mohra nennt ein Beispiel: »Verbesserte Virtual-Reality-Brillen und in Handschuhen eingenähte Sensoren werden es ermöglichen, dass wir die Interaktion der Fahrer mit neuen Fahrerhauskonzepten in beliebigen Verkehrssituationen ganz ohne reale Testkabine simulieren können.«
Raumfahrt: Teure Ausfälle vermeiden
Die Ingenieure der IABG mbH haben in ihrem Taufkirchener Raumfahrttestzentrum die Raumsonde Solar Orbiter lange vor dem Start gründlichst geprüft. Dazu haben sie die Sonde in eine von vier Weltraumsimulationsanlagen geschoben: Funktionieren Instrumente und Kameras einwandfrei, trotz unterschiedlich starker Temperaturbelastung, trotz Sonneneinstrahlung, wechselnder Strahlungsintensität und Vakuum? Hält die Sonde den Bedingungen im All mit den extremen Temperaturschwankungen auf ihrer jahrelangen Reise stand?
Mitte Oktober 2019 waren die Tests in der Weltraumsimulationsanlage abgeschlossen. »Wir haben dabei nachgewiesen, dass der Satellit unter Weltraumbedingungen voll einsatzfähig ist«, freut sich Christian Henjes (50), der im IABG-Geschäftsfeld Raumfahrt für Vertrieb, Marketing und Projektkoordination verantwortlich ist. Die erste Bewährungsprobe im All hat Solar Orbiter schon bestanden.
Die fast 1,8 Tonnen schwere Weltraumsonde startete im Februar 2020 per Trägerrakete von Florida aus und hat bereits erste Bilder von der Sonne gesendet. Die eingebauten Teleskope und Messinstrumente senden acht Jahre lang Daten, mit denen die Forscher besser verstehen wollen, was auf der Sonne vor sich geht.
Bauteilschaden, Totalausfall, Reparatur unmöglich
Dass Solar Orbiter vor dem Start unzählige Simulationstests durchlaufen musste, hat gute Gründe. Ein Ausfall von Sonden oder Satelliten, die auf einer Erdumlaufbahn oder im Sonnensystem unterwegs zu anderen Planeten sind, zöge massive finanzielle Verluste nach sich. »Der Ausfall eines Bauteils hat in der Regel den Totalausfall zur Folge, da Reparaturen im Weltall praktisch unmöglich sind«, betont Henjes.
Ein Schaden an einem Kommunikationssatelliten könnte dazu führen, dass die Datenübertragung samt der zugehörigen TV-, Telefon- und Internetdienste für diesen Satelliten zusammenbricht. In einer IABG-Anlage hat auch Sentinel-6, eine Sonde zur Erforschung des Meeresspiegels und der Meeresströmung, ihre Weltraumtauglichkeit nachgewiesen. Im September erfolgte der Abtransport in die USA, der Start in eine Erdumlaufbahn per Trägerrakete ist für Ende 2020 vorgesehen.
Künftig will IABG in Taufkirchen weitere optische Instrumente testen, etwa hochauflösende Kamerasysteme für Beobachtungssatelliten. Die Kameras sollen hochgenaue Farbaufnahmen aus mehreren Hundert Kilometern Höhe liefern. Mit Simulationen hat IABG noch einiges vor. Henjes: »Zu den zentralen Herausforderungen für die Simulationstechnik gehören künftig die größeren und schwereren Satelliten, die steigenden Reinraumanforderungen in der Testumgebung sowie die immer höheren missionsspezifischen Anforderungen während der Tests.«