»Tracht war immer Mode«

Im Bezirk Oberbayern gibt es ein offizielles Informationszentrum für Trachten. Sein Leiter liebt die Textilien und demontiert mit Hingabe die gängigen Vorstellungen von Tracht.
Cornelia Knust, Ausgabe 09/20
Kein Oktoberfest, kein Schützenball, keine Kirchweih, keine Dult, vielleicht nicht einmal ein Almabtrieb. Die Gelegenheiten zum Anlegen festlicher Tracht sind rar in diesem Spätsommer und Herbst. Warum sich fesch machen, wenn Feiern in größerem Rahmen verboten ist? Wozu ein neues Gewand, wenn man ohnehin kaum jemanden trifft?
Auch Tracht: bajuwarische Billigware aus Bangladesch
Trachtenexperte Alexander Wandinger findet die Lage eher inspirierend. Für den quirligen Mann, der Trachten sammelt, seit er 16 Jahre alt ist, macht diese Krise die Festtagskleidung nur lebendiger. Der Trachtenexperte des Bezirks Oberbayern sieht das Coronatief als Aufforderung zu wildem Mixen, Kombinieren und Experimentieren mit der Mode – Mundschutzmasken eingeschlossen.
»Wir brauchen Leute, die sich was trauen«, sagt der 52-Jährige. »Denn es ist gerade wieder vieles unglaublich spießig geworden.« Er schätzt zwar das gute Handwerk. Aber er findet auch T-Shirt zu speckiger Lederhose tragbar. Und selbst bajuwarische Billigware aus Bangladesch zählt für ihn unbedingt zur Trachtenmode.
Der Leiter des Trachten-Informationszentrums empfängt in den Gewölben des Klosters Benediktbeuern Vereine und Heimatpfleger, begrüßt Handwerker, Designer und Wissenschaftler. Natürlich freut er sich über das wachsende Interesse an der Tracht, das wieder ungenierte Tragen von Dirndl und Lederhose gerade unter jungen Leuten. Doch gleich im nächsten Satz entlarvt er den Trachtentrend als schöne Illusion und stellt die Definition von Tracht infrage: »Ich demontiere diesen Begriff inhaltlich seit über 30 Jahren.«
»Regionale Gewandkultur«
Wandinger bevorzugt für seine Sammlung den Begriff »regionale Gewandkultur« und macht gleich einmal klar, dass diese sich immer an der herrschenden Mode orientiert und ununterbrochen verändert hat. Das unterstreicht er, wenn er in seinem Depot einen der vielen flachen Pappkartons öffnet und das Seidenpapier zur Seite schiebt. Wenn er hier auf eine Taillenform deutet, dort auf einen gefältelten Kragen oder eine Stickerei aus Barockzeit oder Biedermeier.
Von wegen Bewahren und Tradition
Ausgehend vom Adel über die Bürgerhäuser bis in die ländlichen Stuben verbreiteten sich die Vorbilder für Schnitte, Stoffe, Farben und Details. Auch Reisende aus fernen Ländern und Soldaten ließen Einflüsse da. »Tracht war immer Mode«, meint Wandinger, also das Gegenteil von Bewahren und Tradition. »Jede Generation hat das, was vorgegeben war, immer wieder erneuert und ersetzt.« Die Vorstellung, es gebe die eine »echte Tracht« für eine Region oder einen Ort, sei daher »kompletter Blödsinn«, so Wandinger. Vieles war auch sehr schlicht. Die gewöhnliche bäuerliche Tracht vor hundert Jahren sah laut Wandinger so aus: dunkler Anzug für den Herrn und für die Dame Miedergewand mit »Spenzer« oder »Schalk«, also mit einer eng anliegenden Jacke mit Schößchen.
Klischees versus geschichtliche Zusammenhänge
Was die Wiesngänger heute unter Tracht verstünden, entstamme der Werbung von Modehäusern aus den 1920er-Jahren. Die bedienten das Klischee des aufrührerischen, edlen und wilden Naturburschen und Jägers. Im Zentrum: die Lederhose als Symbol von Unabhängigkeit und Kampfbereitschaft. Wandinger bemüht zur Erklärung die geschichtlichen Zusammenhänge. Bei der brutalen Niederschlagung der Räterepublik 1919 tauchten die Freikorps oft in Gebirgstrachten auf: kurze Lederhose, graue Lodenjacke, grüner Hut.
Kleidung wurde instrumentalisiert
In Lederhosen begehrten in den 1920er-Jahren aber auch die Bergarbeiter, Knechte und Handwerker in ihren neu gegründeten Trachtenvereinen auf, die damals eher eine linke Gesinnung hatten: gegen die reichen Bauern, an deren sonntäglichem Stammtisch im Wirtshaus die Arbeiter nicht zugelassen waren. So gingen diese stattdessen zum Gaufest, wo man viel trinken, feiern und sich verlieben konnte. Weshalb auch in der Kleidung der Frauen die erotische Komponente stärker zum Tragen kam – in Form des Dirndlgewands. Diese Art der Kleidung wurde anschließend von den Nationalsozialisten instrumentalisiert, so wie später die Trachtenvereine der Organisation »Kraft durch Freude« einverleibt wurden, wie Wandinger erklärt.
20.000 historische Textilien, 50.000 Bildbelege
Und heute? »Vielleicht ist die Tracht am lebendigsten dort, wo diejenigen, die sie tragen, keine Tracht darin sehen, sondern einfach ihre Kleidung«, sagt Wandinger. Die mehr als 20.000 historischen Textilien und 50.000 Bildbelege im Trachten-Informationszentrum dokumentieren dies über die Jahrhunderte. Das meiste hat Wandinger selbst gesammelt, anfangs an fremden Haustüren auf eigene Faust, später in höherem Auftrag der Kultur- und Heimatabteilung des Bezirks Oberbayern. Erst diente eine Direktorenvilla in Haar bei München als Depot für die wachsende Sammlung.
"Wertvoll für unsere Gesellschaft sein«
Im Jahr 2000 boten sich Räume bei den Salesianern in Benediktbeuern zur Miete. Hier wirken jetzt vier bis sechs Mitarbeiter. Doch Wandinger will mehr, träumt von einer Erweiterung, um mehr Veranstaltungen anzubieten und wechselnde Ausstellungen zu präsentieren. Auch wenn ihm schwant, dass sich mit Blick auf künftige Budgets die Coronakrise gerade nicht als Segen erweist, beharrt er: »Es geht um die Frage: Wie können wir wertvoll für unsere Gesellschaft sein?«
»Sitt und Tracht der Alten erhalten«
Seine Neugierde sei sehr ausgeprägt, sagt der Mann, der einräumt, mit der Sammlung zunächst wohl auch seine eigene Suche nach Heimat betrieben zu haben – schon als ganz junger Mensch. Nach vielen Jahren in der Klosterschule in Schäftlarn und nach einer anschließenden Schreinerlehre machte er die Tracht zum Beruf. Doch die Sicht auf sein Tun hat sich verändert. »Sitt und Tracht der Alten wollen wir erhalten.« Diesen in vielen Trachtenvereinen üblichen Spruch sieht Wandinger heute mit Distanz. Denn je länger er sich mit der Geschichte dieser Textilien beschäftigte, desto klarer wurde ihm, dass man nichts bewahren kann, dass alles endlich ist. Heimat ist heute für ihn kein Ort und keine Vergangenheit, sondern das Hier und Jetzt.
Gewandkulturen aus vielen Weltteilen einbinden
Auch Bildung bedeutet für ihn Heimat: ohne Vorurteile zu sein, sich selbst zu erkennen. Deshalb hat er lange nicht nur oberbayerische Tracht gesammelt, sondern Gewänder aus vielen Teilen der Welt. Auch jetzt will er die regionale Gewandkultur der Menschen einbinden, »die zu uns gekommen sind und bleiben werden«.