Lebenswerte Landökosysteme

Die Vereinten Nationen haben 17 Sustainable Development Goals (SDGs) verabschiedet, zu deren Erreichung auch Unternehmen beitragen können. Nachhaltigkeitsziel Nummer 15 setzt sich für das Leben an Land ein.
Gabriele Lüke, Ausgabe 04/20
Rund 75 Prozent der weltweiten Landflächen sind laut dem World Atlas of Desertification degradiert, also erodiert, verwüstet, versalzen, kontaminiert. Jede Minute verschwindet Tropenwald in der Größe von 30 Fußballfeldern, berichtet die Onlineplattform Global Forest Watch. Eine Million Pflanzen- und Tierarten sind in den kommenden Jahrzehnten vom Aussterben bedroht, meldet der Weltbiodiversitätsrat.
Das sind nur drei Schlaglichter, die zeigen, unter welchem Druck Landökosysteme wie Böden, Wiesen, Auen oder Wälder stehen. Die Vereinten Nationen fordern daher in ihrem Nachhaltigkeitsziel (SDG) 15, »Landökosysteme zu schützen, wiederherzustellen und ihre nachhaltige Nutzung zu fördern, Wälder nachhaltig zu bewirtschaften, Wüstenbildung zu bekämpfen, Bodendegradation zu beenden und umzukehren sowie dem Verlust der Biodiversität ein Ende zu setzen«. In der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die die SDGs in Deutschland umsetzt, schließt die Bundesregierung sich dem an. Sie will unter anderem zur Verbesserung der Biodiversität Auenlandschaften wiederherstellen, Wälder nachhaltig bewirtschaften oder Entwicklungsländer bei der Aufforstung unterstützen.
Mit der neuen Nationalen Bioökonomiestrategie, die das Bundeskabinett im Januar 2020 verabschiedet hat, soll das Wissen über biologische Vorgänge erweitert und mit neuesten Technologien und anderen innovativen Ansätzen verknüpft werden, um so eine nachhaltige, biobasierte, klima- wie landökosystemfreundliche Wirtschaft zu befördern. »Wir können Landökosysteme vielfältig nutzen, etwa Nahrungs- und Futtermittel produzieren, Energie und stoffliche Produkte herstellen. Zugleich aber müssen wir die Balance der Nutzung und des Schutzes der natürlichen Ressourcen im Auge behalten«, sagt Johannes Rupp (44) vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). »Oberstes Ziel muss sein, lebensnotwendige Ökosystemleistungen zu bewahren, das heißt, Böden, Klima, Wasserhaushalt und biologische Vielfalt zu schützen.«
Rupp nennt mögliche Ansätze, die Politik und Wirtschaft zur Erreichung von SDG 15 Impulse geben können: Die Landwirtschaft kann zur Schonung von Ressourcen und Flächen beitragen, indem sie Kulturen anbaut, die mehrere statt nur eine Nutzungsmöglichkeit haben – wie etwa Hanf. Seine Früchte kann man essen, die Fasern sind Basis für diverse Halbwaren und die Schäben, ein Nebenprodukt der Fasererzeugung, eignen sich als Tierstreu. Die Rohstoffverwertung bietet ebenfalls Potenzial: Wenn aus Gras- und Schilffasern zum Beispiel Papier und Verpackungsmaterial oder aus Insektenlarven proteinhaltiges Tierfutter wird, müssen weniger Tropenwälder für Zellulose oder Sojaanbau weichen.
Wie Unternehmen praktisch zu SDG 15 beitragen können, beschreibt IHK-Nachhaltigkeitsexpertin Verena Jörg: »Neben der flächensparenden Nutzung von Böden, möglichst entwaldungsfreien Lieferketten oder entsprechenden Produktinnovationen gibt es auch zahlreiche kleinere nützliche Ansätze: Dachbegrünungen, Blühstreifen und -wiesen oder Artenschutzprojekte.« Drei Unternehmen zeigen, wie dies in der Praxis funktioniert.
Dachflächen begrünen
Im Werksviertel-Mitte in München sind die Dächer mit heimischen Gräsern, Blumen und Bäumen bepflanzt, Tümpel wurden angelegt, Totholz ausgebracht. Das Gras fressen Schafe ab, die auf den Dächern leben. »Mit diesem Konzept schaffen wir ökologischen Ausgleich für unsere Bebauung und stärken die Artenvielfalt«, sagt Nikolas Fricke. Der 37-Jährige ist Geschäftsführer der Joh’s Eckart GmbH, die die Nachhaltigkeitsaktivitäten im Werksviertel-Mitte bündelt. Damit die Ideen über das Areal hinaus wirken, gibt es zudem ein weiterführendes Forschungsprogramm sowie das pädagogische Projekt »Almschule«, das Kinder mithilfe der grünen Dächer und der Schafe für Umwelt- und Artenschutz begeistern will.
Blühwiesen anlegen
Was lässt sich mit Aushub anfangen, der zwar ökologisch problemlos ist, aber qua Gesetz doch entsorgt werden müsste – es sei denn, er bleibt auf dem Firmengelände? Robert Wittig (39), Nachhaltigkeitsbeauftragter der Bauer Unternehmensgruppe, nahm den Aushub und legte mit seinen Azubis eine Wiese mit regionalem Saatgut an: »Wir haben am Werksgelände offene Rohbodenstellen, ebenso befindet sich auf dem Gelände ein Altwasserarm der Ammer mit Schilf, das als Refugium für Insekten dient. Mit der Blühwiese konnten wir ein weiteres kleines Ökosystem neu schaffen und so auch etwas für den Artenerhalt tun.« Die Maßnahme ergänzt die umfangreiche Palette von Nachhaltigkeitsaktivitäten des Maschinenbauspezialisten. Wittig ist es besonders wichtig, die junge Generation zu Nachhaltigkeit zu motivieren: »Als Dank für die Unterstützung bei der Wiese und als Zeichen der Wertschätzung durften deshalb auch die Azubis die Auszeichnung ›Blühender Betrieb‹, die im Rahmen des Blühpakts Bayern verliehen wurde, in Empfang nehmen.«
Rohstoffe bewusst auswählen
Wie sich der Schutz des Tropenwalds im Kerngeschäft verwirklichen lässt, zeigt Aline Werr, Geschäftsführerin der Saint Clouds GmbH & Co. KG. Die 46-Jährige fertigt in ihrer Manufaktur »I want you naked« in Kirchheim handgemachte Seifen und andere Kosmetikprodukte aus natürlichen Rohstoffen: »Ich verwende vor allem regionale Zutaten, zum Teil aus eigenem Anbau. Doch gute Seifen brauchen partiell auch Öle aus exotischen Pflanzen.« Anfangs nutzte sie Palmöl, das Bestandteil vieler Seifenrezepte ist, weil es für schönen Schaum sorgt. Werr jedoch wollte nicht unterstützen, dass für Palmenplantagen massiv Tropenwälder gerodet werden. Sie experimentierte so lange mit alternativen – entwaldungsfreien – Ölen, bis sie den gleichen Schaumeffekt erzielte. Nun verzichtet sie komplett auf Palmöl. Und auch bei allen weiteren Rohstoffen, die nicht aus der Region kommen, hat sie die Tropenwälder im Blick: »Wir kaufen nur bei Rohstoffproduzenten ein, bei denen wir sicher sein können, dass die Ökosysteme keinen Schaden nehmen.«