Gutachten: Tiroler Fahrverbote rechtswidrig?
Die Tiroler Fahrverbote könnten gegen EU-Recht verstoßen. Zu diesem Schluss kommt zumindest ein aktuelles Rechtsgutachten. Eine Klärung vor Gericht ist allerdings gar nicht so einfach zu erreichen.
Melanie Rübartsch, Ausgabe 02/2022
Thomas Baumgartner wollte nicht länger zuschauen. Als Chef des Südtiroler Transport- und Logistikunternehmens Fercam hat der 67-Jährige täglich unmittelbar mit den Auswirkungen der Tiroler Fahrverbote zu kämpfen. »Wir sind wie viele andere Transportunternehmen mit den immer strengeren Fahrverboten am Brenner überfordert«, sagt der Firmenchef. Die Staus führten inzwischen zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen.
Eine Einschätzung, die viele Transport- und Logistikfirmen in Oberbayern teilen. Weil Tirol die Zeitfenster für Fahrten über den Brenner immer mehr verkleinert, kommt es in Bayern regelmäßig zu gewaltigen Staus.
Baumgartner ist nicht nur Unternehmer, sondern setzt sich als Präsident des italienischen Frächterverbands ANITA auch für die Interessen der gesamten Branche ein. ANITA hat zusammen mit zwei weiteren italienischen Güterkraftverkehrsverbänden, FAI und FEDIT, eine internationale Anwaltskanzlei beauftragt, gegen die EU-Kommission wegen Untätigkeit gegenüber Österreich vorzugehen. »Es kann nicht sein, dass auf dieser Ebene nichts passiert, obwohl die Generaldirektionen der EU-Kommissare für Binnenmarkt, Verkehr und Umwelt die Kommission bereits Ende 2020 aufgefordert hatten, ein Vertragsverletzungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof einzuleiten«, moniert Baumgartner. Unterstützung erhält ANITA dabei von der Handelskammer Bozen.
Unzulässige Einschränkung
Die hatte bereits Ende 2020 den EU-Rechtsexperten Peter Hilpold, Professor für Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck, mit einem Rechtsgutachten beauftragt. Es geht um die Frage, ob das sektorale Fahrverbot in Tirol mit europäischem Recht vereinbar ist. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: Die erlassenen Fahrverbote schränken den freien Warenverkehr im Binnenmarkt unzulässig ein.
Fehlende Verhältnismäßigkeit
Die österreichische Regierung hatte die Fahrverbote auf das Immissionsschutzgesetz-Luft gestützt. Vordergründiges Ziel ist es also, für bessere Luftwerte in der Brenner-Region zu sorgen. »Grundsätzlich können solche umweltpolitischen Ziele Einschränkungen des Binnenverkehrs rechtfertigen«, erklärt der Rechtsprofessor.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte aber bereits in einem Verfahren 2011 gegen die damals geltenden Fahrverbote klare Regeln aufgestellt, unter welchen Voraussetzungen solche Einschränkungen auch verhältnismäßig und damit rechtmäßig sind. »Das sah der EuGH damals schon nicht als erfüllt an, und nach meiner Analyse ist das nach den bis heute erfolgten Verschärfungen der Verbote noch weniger der Fall«, sagt der EU-Rechtler und führt gleich mehrere Argumente an.
Umweltschutz entscheidend
Nach Hilpolds Analyse existieren offizielle Erklärungen der Tiroler Landesregierung, die als Ziel der Beschränkung nicht nur auf die Luftbelastung abstellen, sondern ebenso auf die Reduzierung von Lkw-Fahrten durch Tirol allgemein. »Die Beschränkung des Transits ist für sich genommen aber kein schützenswertes Ziel«, erklärt der Professor.
Das gelte erst recht, wenn die Regelungen primär dazu geeignet erscheinen, die Transportleistungen von Unternehmen mit Sitz in den Nachbarstaaten auf Nordtiroler Unternehmen umzuleiten, ohne dass damit der Verkehr vermindert würde. »Dann haben solche Maßnahmen rein gar nichts mehr mit Umweltschutz zu tun«, sagt der Rechtsexperte.
Zweifel an Ausnahmeregeln
Ein weiteres Argument: Mit dem Fahrverbot sind auch Ausnahmen für Quell- und Zielverkehr geregelt. Damit sind Fahrten mit Fahrzeugen gemeint, die in einer konkret definierten Zone entlang der Inntalautobahn be- oder entladen werden. Solche Ausnahmen sind nach Lesart des EuGH nur dann zulässig, wenn Umgehung und Missbrauch dieser Regeln auf jeden Fall ausgeschlossen sind. »Den Beweis dafür bleibt Österreich bis heute schuldig«, erläutert Rechtsexperte Hilpold.
Im Gegenteil: Es mehrten sich sogar Anhaltspunkte dafür, dass diese Ausnahmen gezielt von österreichischen Unternehmen ausgenutzt würden. So berichten norditalienische Firmen immer wieder, dass sie gezielt von Transportunternehmen in der »Quell- und Zielzone« kontaktiert werden. Diese Spediteure würden Fahrten entlang des Brenner-Transits anbieten – die Ausnahmeregelung also gezielt für das eigene Geschäft nutzen.
Schon in dem Verfahren von 2011 hatte die österreichische Regierung darauf verwiesen, dass es mit der Rollenden Landstraße (siehe IHK-Artikel »Güter aufs Gleis«), also mit dem Transport von Lkws auf der Schiene, eine brauchbare Alternative zur Autobahn gebe. Das ist nach Hilpolds Gutachten aber selbst nach zehn Jahren nicht der Fall: »Weder von den Kapazitäten her noch in Bezug auf das Kostenelement stellt diese Einrichtung ein brauchbares Angebot für einen beachtlichen Teil der Frächter dar.«
Nur noch Schadstoffklasse Euro 6 erlaubt
Am 1. Januar 2020 kam es zu einer weiteren Verschärfung. Während der Quell- und Zielverkehr mit Lkws der Schadstoffklasse Euro 5 und 6 erfolgen kann, dürfen im Transitverkehr nur Lkws der Klasse 6 rollen, die außerdem nach dem 31. August 2018 erstmalig zugelassen sein müssen.
Nach einer Statistik aus dem Jahr 2019 erfüllten nur 6,5 Prozent der Südtiroler Lkws diese Bedingung. In Deutschland dürften es nach Schätzung des deutschen Bundesverbands Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) etwa 30 Prozent sein. »Durch diese Einschränkung sind nur unwesentliche Luftqualitätssteigerungen zu erreichen«, sagt Hilpold, während Frachtunternehmer damit in Bezug auf den Transport einer Vielzahl von Gütern ausgeschlossen würden. Eine solche Maßnahme könne weder als erforderlich noch als angemessen qualifiziert werden.
Rechtliche Klärung nicht einfach
Hilpolds rechtliche Einschätzung hat aktuell allerdings noch keine konkreten Folgen. Denn nur der EuGH kann Österreich aufgeben, die Fahrverbote nachzubessern. Dazu müssten sich die Luxemburger Richter aber mit der Materie beschäftigen. Die schnellste Möglichkeit, dies zu erreichen, wäre tatsächlich, dass die EU-Kommission oder einer der anderen Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich einleitet – worauf ANITA & Co. drängen.
Eine Alternative wäre, dass die Fahrverbote in einem Streitfall vor einem österreichischen Gericht eine Rolle spielen. Dann müssten die Richter das Verfahren aussetzen und die Regelungen dem EuGH zur Prüfung vorlegen. Ein entsprechendes Verfahren ist bislang aber nicht anhängig. »Hier zeigt sich eine echte Schwäche im EU-Rechtsschutz«, urteilt Hilpold. Es fehle eine Art Individualrechtsbeschwerde, die ein einzelner Bürger oder eine juristische Person direkt beim EuGH einreichen könnte.
Womöglich wächst zumindest bald der Druck auf die EU-Kommission. Der deutsche Branchenverband BGL prüft nach eigenen Angaben ebenfalls Maßnahmen wie eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission.