Mobilität | Standortpolitik

An die Wand gefahren

Roland Mühlanger/IMAGO ©
Lkws dicht an dicht – auf der Inntal-Autobahn ein alltägliches Bild

Kilometerlange Staus, massive Konflikte – die Transitpolitik scheint am Ende zu sein. Wie kann das Verkehrs-Chaos am Brenner beseitigt werden?

Martin Armbruster, Ausgabe 02/2022

Am Telefon herrscht langes Schweigen. Lösungen für das Transitproblem am Brenner? Tja, sagt der Verkehrsplaner, Preisanreize seien sicher gut. »Aber so spontan« falle ihm nichts ein. Er hat nur eine Bitte: »Meinen Namen nicht nennen.« Der Logistiker will im Transitstreit für keine Seite Partei ergreifen. Die Alpenschutz-Kommission CIPRA äußert sich resigniert. Sie hält den Brenner für den »Inbegriff des Scheiterns der Transitpolitik«. Unter heutigen Bedingungen sei eine Lösung kaum mehr vorstellbar.

Ausgelegt auf den Bedarf der 60er Jahre

Dabei ist der Sachverhalt einfach. Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WiFo) hat das nüchtern erklärt: Es rollen zu viele Lkws über den Brenner, weil das billig ist. Die Transitstrecke ist nur für den »Bedarf der sechziger Jahre« ausgelegt, ihr Ausbau ausgeschlossen.

Die Politik hat sich um diesen Befund nie gekümmert. Chronisch überlastet? Okay, aber hey – das Geschäft mit Italien läuft gut. Karl Fischer, Geschäftsführer der Logistik-Kompetenz-Zentrum Prien GmbH (LKZ), sagt, er warne schon seit Jahren: Da rollt eine Welle auf den Brenner zu. Die Menge der Richtung Italien transportierten Waren steigt im Schnitt um fünf Prozent pro Jahr.

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Der Systemabsturz am 29. Oktober 2021 war programmiert. Eine Baustelle auf italienischer Seite sorgte laut ORF-Berichten für einen Rückstau bis hinein nach Tirol. Die dortige Landesregierung zog daraufhin kurzfristig die Bremse mit brachialer Wirkung: Die Blockabfertigung führte zu einem Megastau von 60 Kilometern Länge auf der Inntal-Autobahn und bis hinauf zum Irschenberg. Das hat nicht nur Lkw-Fahrer, Spediteure (»So kann man nicht mit uns umgehen«) und Kurzurlauber traumatisiert. Die politischen Nachbeben des Staus zeigen auch, wie blank die Nerven bei allen Beteiligten liegen.

Anruf bei Georg Dettendorfer, Spediteur, IHK-Vizepräsident und Vorsitzender des IHK-Verkehrsausschusses. Der Unternehmer hat im Auto gerade drei Stunden vom Münchner Flughafen zu seiner Firma in Nußdorf gebraucht. Eine Strecke, für die der Routenplaner nur rund eine Stunde vorsieht. Stau, Schnee, Blockabfertigung. Der Mann ist bedient. Es sei »Wahnsinn«, was sich auf der Straße abspiele.

Bayerns Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU) verortet das Problem in Tiroler Schikanen. Tirols Landeshauptmann Günther Platter spricht von »Notwehrmaßnahmen«. Blockabfertigung sei die Sprache, die Deutschland verstehe.

»Lkw-Kontingentierung« gefordert

Die betroffenen Regionen wehren sich heftiger denn je. In Südtirol fordern Lokalpolitiker eine »Lkw-Kontingentierung«. Walter Hofer, Bürgermeister des Tiroler Dorfs Ellbögen, erklärte der Wochenzeitung »Die Zeit«, er lasse sich von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nicht vorschreiben, wie viel Verkehr sein Ort ertragen müsse. Es sei ihm »scheißegal«, ob Österreich dafür beklagt werde. »Die Deutschen sollen lieber ihre Hausaufgaben machen und die Bahn ausbauen.«

Die Logistikbranche ist hypernervös. Lieferengpässe, steigende Energiepreise und Fahrermangel haben die Kosten erhöht. Staus kosten Geld. Sabine Lehmann, Geschäftsführerin des Landesverbands Bayerischer Spediteure, klagt, es gebe keine Planungssicherheit mehr: »Tirol macht das Fenster, in dem überhaupt noch gefahren werden darf, immer kleiner.«

Die Transitkrise bedroht das, was die Regierungen wollen: die Entwicklung des gemeinsamen Wirtschaftsraums entlang der Achse München – Verona. Bayerische Firmen arbeiten seit Jahren daran, Lagerkosten einzusparen. Der Brenner-Transit ist so unkalkulierbar geworden, dass das kaum noch möglich ist.

Warenaustausch im Wert von 50 Milliarden Euro

Bayern sorgt sich um seine alpenquerenden Lieferketten. IHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl warnt, Engpässe könnten EU-weit die Erholung der Wirtschaft gefährden. Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) bangt um den Warenaustausch mit Österreich und Italien. Da geht es nicht um Peanuts, sondern um rund 50 Milliarden Euro. Am Brenner, schreibt der Industrieverband BDI, werde über den deutschen Wohlstand entschieden.

Nur 22 Prozent auf der Schiene

Was getan werden müsste, steht schon in Schulbüchern für Erdkunde: Güterverkehr auf die Schiene verlagern. »Das Inntal ist dicht. Es bleibt nur die Schiene«, sagt Spediteur Dettendorfer. Tatsächlich wird das Gegenteil erreicht. 2010 lag im Brenner-Transit das Verhältnis von Schienen- zu Straßenverkehr noch bei 36 zu 64 Prozent. Heute kommt die Schiene nur noch auf 27 Prozent. Im Inntal, wo der Stau längst Alltag ist, liegt sie bei lediglich 22 Prozent.

Die Zahl der Lkws steigt und steigt. 2019 wurde mit rund 2,5 Millionen der vorläufige Höchststand erreicht. Der Bayerische Wirtschaftsminister Aiwanger zitiert Prognosen, wonach der Lkw-Verkehr in den nächsten zehn Jahren um 30 Prozent zulegen wird. Allen ist klar: Kommt das so, fährt der Transitverkehr gegen die Wand. Aiwanger will den Trend stoppen. Ein mit Tirol vereinbarter 10-Punkte-Plan soll die Wende bringen. Der Titel klingt gut, nur der Inhalt sorgt für Zweifel. Es gibt keine Zeit-, Ziel- und Preisvorgaben, weil Deutschland sie nicht erfüllen könnte.

»Tirol baut, Bayern schaut«?

Schnellere Planung des Brenner-Nordzulaufs? Österreich hat seine Zulaufstrecke längst gebaut, elektrifiziert versteht sich (»Tirol baut, Bayern schaut«). Die geplante Einrichtung der »Leit- und Sicherungstechnik ETCS« – in Österreich klappt das schon. Und die »Erhöhung der Kapazitäten Rollende Landstraße« ist vorerst nur ab Wörgl in Tirol möglich (siehe auch IHK-Artikel »Güter aufs Gleis«).

Unternehmer Dettendorfer hält die »nachhaltige Lenkung des Güterverkehrs« für eine Illusion. Deutschland mangele es selbst an den nötigen Verladeterminals. Tirol fordert deshalb von Europa Hilfe. Wenn Güterzüge flüssiger über den Brenner rollen sollen, müssten alle nationalen Hürden fallen.

Warentransport mit 7 Stundenkilometern

Für den Güterverkehr auf der Schiene gibt es jedoch keine EU-Standards. Die groteske Folge: Ein Stahltransport von Schweden nach Italien steht auf der Schiene mehr, als er fährt. Seine effektive Geschwindigkeit liegt bei sieben Stundenkilometern. Der Lkw bringt es auf 65 Stundenkilometer. Logistikfachmann Fischer vom LKZ spricht von »Planlosigkeit«. Er versichert, auf der Schiene gebe es freie Kapazitäten für den Warenaustausch mit Italien. Kurzfristig ließe sich die Zahl der Lkws um zehn Prozent verringern. Die Politik müsse nur wollen.

Vom Erfolg klarer Vorgaben überzeugt

Für den Brenner-Transit schlägt er einen »Masterplan« vor: Die Politik soll verbindliche Ziele definieren und deren Einhaltung mit täglichem Controlling überwachen. In den nächsten fünf Jahren soll der Anteil des Schienengüterverkehrs im Inntal stufenweise von 22 auf 32 Prozent steigen. Im Gegenzug baut Tirol schrittweise die Zahl der Tage mit Blockabfertigung ab. Fischer ist vom Erfolg klarer Vorgaben überzeugt: »Wenn es Planungssicherheit gibt, wird auch in die Schiene investiert.« Ein Sprung auf 32 Prozent wäre ein Durchbruch, wenngleich ein bescheidener. Am Gotthard liegt der Schienenanteil bei über 70 Prozent.

Auf der Schiene in »sechs Stunden von München nach Verona« – das ist Fischers Vision für den Warenverkehr. Spediteur Dettendorfer macht folgende Rechnung auf: Ein Lkw-Transport von München nach Norditalien kostet 700 Euro, auf der Schiene 1.000 Euro. »Die Kunden sind nicht bereit, den Mehrpreis zu bezahlen«, sagt er und schlägt vor, über »Fördertöpfe« für den Schienentransport nachzudenken. Auch Tirol hat diese Idee, nur will keine Regierung das allein bezahlen. Die EU sträubt sich. Es ist strittig, ob eine Dauersubvention mit EU-Recht vereinbar wäre.

Am Brenner scheitert schon der erste Schritt

Im Forum von »Spiegel Online« liefert der User »FaktenOrientiert« diesen »Tipp«: »An der Preisschraube so lange drehen, bis die Lkws teurer sind als der Güterverkehr auf der Bahn.« Ökonomen wie der Klimaforscher Ottmar Edenhofer, Professor an der TU Berlin und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, sehen das genauso – nur mit dem Zusatz, dass der Markt an der Schraube drehen muss. Die Politik müsse eine Obergrenze festschreiben, das Angebot verknappen. Die Nachfrage treibt den Preis, ein Signal, auf das der Markt sofort reagiert.

Am Brenner scheitert schon der erste Schritt. Tirol hatte das Ziel, die Lkw-Fahrten auf eine Million pro Jahr zu begrenzen. Davon ist heute keine Rede mehr. Über den Brenner-Korridor fahren mehr Lkws als über alle Schweizer Alpenübergänge zusammen. Dafür sorgt der Markt, das günstige Angebot. Laut CIPRA kostet die Strecke Rosenheim – Verona 130 Euro, Basel – Mailand 230, Genf – Mailand knapp 430 Euro. Die billigen Dieseltankstellen von Kufstein bis Innsbruck/Natters schaffen einen weiteren Preisanreiz.

Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) bezweifelt dennoch, dass die Preise wirken. Die Maut sei nicht »die einzige und letztlich auch nicht die entscheidende Bestimmungsgröße für die Wahl einer Transportroute«. Bayerns Verbandschefin Lehmann sagt, Tirol könne einen Umwegeverkehr nicht belegen. Spediteure hätten das natürliche Interesse, die schnellste und kürzeste Route zu wählen.

1 Million Lkws nur wegen des günstigen Preises

Offenbar ist das nicht immer der Fall. Das zeigt die CAFT-Erhebung, die die Tiroler Landesregierung alle fünf Jahre veröffentlicht. Für die Studie werden Lkw-Fahrer über ihre Routenwahl befragt. Die jüngsten Zahlen (2019) sind brisant: Nur rund 41 Prozent der Fahrten über den Brenner waren Bestwege, also Routen über die kürzeste Strecke. Etwa 30 Prozent der Fahrten hätten eine um mindestens 60 Kilometer kürzere Alternativroute gehabt. Das Portal »Energiezukunft« stellt fest: Jährlich fahren eine Million Lkws nur wegen des günstigen Preises über den Brenner.

Weder über den Befund noch über seine Konsequenzen gibt es Einigkeit. Der Branchenverband BGL betont, wenn Tirol Entlastung wolle, müsse Österreich die Dieselpreise erhöhen. Zumindest da bewegt sich etwas. Österreichs ökosoziale Steuerreform wird von Juli 2022 an zu höheren Dieselpreisen führen.

Mittlerweile fordern 13 europäische Transport- und Logistikverbände EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf, gegen Österreichs »Anti-Transitpolitik« vorzugehen. Ihr Argument: Auf der Schiene geht nicht viel, also muss die Blockabfertigung weg, am besten auch das Lkw-Nachtfahrverbot. Die Belastung verteilt sich dann auf volle 24 Stunden. Die Schwächen der Idee sind klar. Sie erzeugt noch mehr Schwerverkehr, weil sie die Straße attraktiver macht. Und mit den Tirolern wird nicht kooperiert, sie werden unterworfen. (siehe IHK-Artikel »Klage als Ausweg?«)

Unternehmer äußern daher Zweifel. Nico Schoenecker, Chef der Autobus Oberbayern GmbH und Mitglied des IHK-Verkehrsausschusses, glaubt nicht, dass Klagen und Urteile eine Lösung bringen. »Wir können den freien Warenverkehr nicht so einfach über die Bevölkerungsinteressen stellen. Das gefährdet am Ende die Akzeptanz der EU«, sagt Schoenecker.

Spediteur Dettendorfer meint, man müsse den Tirolern etwas anbieten. Denkbar sei die Verlagerung der bayerischen Einreisekontrollen auf der A93 »ins Hinterland«. »Auch bayerische Grenzkontrollen sorgen auf Tiroler Seite für Rückstaus«, erklärt der Unternehmer.

»Kostenwahrheit« gefordert

Tirol fordert »Kostenwahrheit«: Eine Korridormaut soll die Billigroute über den Brenner verteuern. Das Toll-Plus-System soll für kurzfristige Entlastung sorgen, mit Mautaufschlägen für Berggebiete, Ausnahmen für den Regionalverkehr und Zweckbindung der Mauteinnahmen für die Schiene. Rechtsbasis ist die EU-Wegekostenrichtlinie oder Eurovignette Directive.

Auf der Brenner-Transitstrecke hat bislang nur Österreich einen Mautaufschlag von 25 Prozent erhoben. Im Dezember 2020 machten die EU-Verkehrsminister (Österreich stemmte sich dagegen) weitere Alleingänge unmöglich. Ohne die Zustimmung Italiens und Deutschlands kann Österreich nicht weiter an der Mautschraube drehen. Italien hat an höheren Tarifen kein Interesse. 70 Prozent seines gesamten Außenhandels laufen über die Alpen.

 CO2-gestaffelte Lkw-Maut

Nach einem vier Jahre langen Ringen um die Neufassung der Wegekostenrichtlinie hat das EU-Parlament im Sommer 2021 die Reform verabschiedet. Das Ergebnis hat nicht nur Österreich enttäuscht, es werde nach Einschätzung der »Deutschen Verkehrs-Zeitung« (DVZ) auch keine wirkliche Entlastung der Transitstrecken bringen. Die Lkw-Maut darf jetzt CO2-gestaffelt erhoben werden. Ob und welche Wirkung das habe, sei unklar. Einen Punkt hält der DVZ-Kommentar aber für sicher: Die neue Eurovignette müsse schon bald überarbeitet werden, weil sie sich mit den EU-Klimaschutzzielen kaum vereinbaren lässt.

EU-Kommissionschefin von der Leyen steht unter Zugzwang. Sie will den freien Warenverkehr durch- und alle Lkw-Fahrverbote aussetzen. Das fördert den Schwerverkehr. Dennoch soll es den Menschen im Brenner-Korridor besser gehen, sollen die Luftschadstoffe sinken. Über allem schwebt das Jahrhundertprojekt Green Deal. Das klingt spannend, aber gewiss nicht nach einem schlüssigen Plan.

Vorbild Schweiz

Vielleicht hilft ein Blick in die Schweiz. »Es läuft gut im Schienengüterverkehr«, meldet die dortige Regierung. Eine Botschaft wie aus einer anderen Welt. In der Schweiz hat die Politik die Bürger nicht nur »mitgenommen«. Die Schweizer haben mit Plebisziten den Kurs selbst bestimmt – für die Bahn, gegen den Schwerverkehr. 1992: Ja zur neuen Eisenbahn-Transversale mit den Basistunneln am Gotthard, Ceneri und Lötschberg. 1994: Ja zum Schutz der Alpen vor dem Transitverkehr. 1998: Ja zur Einführung der leistungsfähigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA).

Das Güterverkehrsverlagerungsgesetz beauftragte die Regierung 2008, mit den EU-Nachbarländern über die »Alpentransitbörse« zu verhandeln, das einzige marktwirtschaftliche Instrument für eine Entlastung des Straßenverkehrs (s. Interview mit EU-Rechtsexpertin A. Epiney, Alpentransitbörse)

Frappierendes Gefälle

Zugegeben, die Schweiz ist ein kleines Land. Aber das Gefälle ist frappierend: Die Schweiz investiert jährlich 440 Euro pro Kopf in die Schiene, Deutschland nur 88 Euro. Mit Blick auf den Klimaschutz soll die Abgabe LSVA verschärft, Lkw-Transporte weiter verteuert werden.

Die Schweiz hat das gesetzliche Ziel, die alpenquerenden Lkw-Fahrten auf 650.000 pro Jahr zu begrenzen. Die Zahl der jährlichen Lkw-Transitfahrten hat sie bereits von 1,3 Millionen auf 880.000 gesenkt. Im Alpentransit hat die Schiene einen Anteil von rund 72 Prozent. Den »Wahnsinn« auf der Straße hat die Schweiz fast abgeschafft.

Auf der Brenner-Autobahn fangen die Probleme dagegen gerade erst so richtig an.

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