Unternehmen | Unternehmen

Neuperlach leuchtet

Community Kitchen ©
Bewahrt Essbares vor dem Müll – Günes Seyfarth, Gründerin der Community Kitchen

Günes Seyfarth rettet mit dem Unternehmen Community Kitchen nicht nur Lebensmittel – sie liefert auch ein Modell für mehr Leben in der Stadt.

Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 03/2024

Jetzt hat sie es quasi amtlich: Günes Seyfarth darf sich Top-Problemlöserin nennen. Die Gründerin und Sozialunternehmerin gewann den LaMonachia 2023, Münchens Wirtschaftspreis für Frauen. Die Jury lobte Seyfarths „Gründungsbegeisterung und Willen, soziale oder ökologische Probleme mit unternehmerischen Mitteln anzugehen“.

Wer das verstehen will, sollte mit der U-Bahn selbst hinausfahren zur Community Kitchen Food GmbH. Linie U5, Haltestelle Neuperlach Zentrum. Wer dort aussteigt, blickt zuerst auf das Gegenmodell, Konsum im Überfluss. Das pep Einkaufscenter Neuperlach beherrscht die Szenerie. 60.000 Quadratmeter Verkaufsfläche und 135 Läden ziehen Menschen aus dem gesamten Südosten Münchens an. Nicht alle kaufen überlegt ein – das gilt auch fürs Essen. Pro Tag werfen Münchner Privathaushalte rund 165 Tonnen Lebensmittel in den Müll.

„Kleines Wunder“ im tristen Häusermeer

Beton, Hochhäuser, viel Autoverkehr. Neuperlachs Image ist ausbaufähig. Für seine 110.000 Einwohner bietet es außer dem Einkaufszentrum nicht viel. Wer ins Kino will, muss eigens in die City fahren. Touristen verirren sich kaum hierher. Die Stadt weiß, dass hier etwas getan werden muss. Seit 2015 ist ein Bürger- und Kulturzentrum geplant. Das kommt aber nicht vor den 2030er-Jahren. Erst wenn man auf dem Fußweg dem Schild „Community Kitchen“ folgt, ändert sich das Bild. Es wird erfrischend bunt.

Vor dem Eingang wurde ein „Blütenlehrpfad für Bienen“ aufgebaut. Laut Christian Smolka, Unternehmer, Neuperlacher und Grünen-Stadtrat, hat Seyfarth in der mit 12.000 Quadratmetern größten sozialen Zwischennutzung der Republik ein kleines Wunder bewirkt. Hier sei entstanden, was den Menschen in Neuperlach gefehlt habe – eine Anlaufstelle, eine wirkliche „Community“.

Wut über Lebensmittelverschwendung

Pro Tag gehen hier etwa 1.500 Menschen ein und aus. Die Neuperlacher nehmen das Angebot offenbar liebend gern an. „Hier ist Leben“ und „Ihr seid kein Unternehmen, ihr seid ein Dorf“, so lauten Sätze, die Seyfarth von ihren Kunden hört.

Begonnen hat das alles mit einer simplen, aber bahnbrechenden Idee: Ein großer Teil der Lebensmittel, die weggeworfen werden, landet nur deshalb im Müll, weil die Joghurts und der Scheibenkäse das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben oder die Paprikaschoten runzlig sind. Die Wut über diese Verschwendung trug Seyfarth seit ihrer Jugend in sich. Sie wollte die Lebensmittel retten und daraus gutes Essen kochen.

Pionierin: erstes Restaurant für gerettete Lebensmittel

Mit einem Food-Truck erprobte Seyfarth schon 2019 das Konzept. Sie rettet mit ihrem Team Lebensmittel, die ansonsten auf dem Müll landen würden, aber verzehrfähig sind, und bereitet daraus Mahlzeiten. Für die Umsetzung im großen Stil suchte Seyfarth lange nach den passenden Räumen. Ihre Chance kam, als der US-Immobilienkonzern Hines einen Zwischenmieter für das Gebäude in Neuperlach suchte.

Hines war offen für Experimente, Seyfarth und ihre Mitgründerin Judith Stiegelmayr gewannen die Ausschreibung. Die ehemalige Kantine der Allianz-Versicherung war für ihre Pläne ideal. Im Februar 2022, mitten in der Coronakrise, eröffnete die Community Kitchen, das erste deutsche Restaurant seiner Art. Wenige Wochen später, im Juni, startete Seyfarth das zweite Projekt, das „shaere Neuperlach“.

Sie vermietete Flächen und Räume, die sie für ihre „Kitchen“ nicht brauchte, zu günstigen Preisen. 140 Nutzer – Künstler, Vereine, Musiker und Gründer – sind inzwischen eingezogen. In der Neuperlacher Vor-shaere-Epoche war mit dem öffentlichen Leben um 20 Uhr Schluss, dann macht das pep die Schotten dicht. Heute gibt es im shaere täglich bis 22 Uhr Programm.

Von Kleidertausch bis Kino – Mehrwert mit „shaere“

Im Angebot ist alles, was Gemeinschaft fördert: Kleidertauschbörsen, Foto-Workshops, Nachhilfe, Sprachunterricht, Vortrags- und Diskussionsabende, Kurse für Nähen, Computer und Gitarrenspiel, sogar ein Programmkino („shaere Sofakino“) gibt es. Seyfarths Team informiert auf Social Media und per Newsletter, was an der Fritz-Schäffer-Straße 9 täglich läuft.

Entscheidend für das Ganze ist letztlich das Essen. Und das schmeckt heute auch beim dritten Selbstversuch. Am georgischen Gemüseeintopf mit Pute gibt es nichts zu meckern. Auf Wunsch erhält man Nachschlag. Pro Tag gehen hier an die 500 Mahlzeiten über die Tresen.

„Der Drive, andere mitzureißen“

Die Community Kitchen bietet 199 Plätze und ist heute rappelvoll. Die Chefin klagt, sie habe wenig geschlafen, sie habe so viel Aufregendes vor. Das ist der Punkt, den Andrea Rexer, LaMonachia-Jurymitglied und Kommunikationschefin der HypoVereinsbank, „an der Günes“ so faszinierend findet. „Sie hat diese unglaubliche Energie und den Drive, andere mitzureißen“, sagt Rexer. Sie hält es für vorbildlich, was Seyfarth macht: „Sie hat in Neuperlach eine bunte Oase geschaffen.“

Christian Schneidermeier, Chef der Ortovox Sportartikel GmbH, sieht das ebenso. Er sitzt gemeinsam mit Seyfarth in der IHK-Vollversammlung und im IHK-Ausschuss Unternehmensverantwortung. Er teilt ihre Ansicht, dass diese Verantwortung beim Essen anfängt. Schneidermeier hält die Community Kitchen für eine tolle Idee, weil sie zum Nachdenken zwinge. Eine Ortovox-Weihnachtsfeier fand dort auch schon statt.

Bankenskepsis klar widerlegt

Nur bei den Banken war man skeptisch. „Die Männer sagten: Ja, Mädels, fangt doch erst einmal klein an. Rechnet euren Businessplan mal runter“, erinnert sich Mitgründerin Stiegelmayr. Die „Mädels“ haben es den Bankern gezeigt. „Im ersten Jahr haben wir dann den geplanten Umsatz um 300 Prozent übertroffen“, stellt Seyfarth mit Genugtuung fest.

Für das bundesweit einmalige Projekt läuft es auf allen Ebenen. Seyfarth und ihr Team retten bis zu 40 Tonnen Lebensmittel pro Woche. Ein Jahr Community Kitchen spart 720 Tonnen CO2 ein. Mit Natalie Gath ist eine dritte Frau in die Geschäftsführung eingestiegen. 35 Angestellte und 120 Ehrenamtliche sorgen dafür, dass das Kochen mit geretteten Lebensmitteln funktioniert.

Speisekarte: Improvisiert, aber lecker

„Dafür muss man auch im Kopf sehr agil sein“, erklärt Seyfarth. Man wisse nie, was an Lebensmitteln reinkomme, müsse viel organisieren und improvisieren. Eine feste Speisekarte lasse sich so nicht planen.

Internationales Interesse hat das Projekt auch schon ausgelöst. Eine US-Journalistin beschrieb, wie das frauengeführte Restaurant die Münchner Gastroszene aufmischt. Im Mai 2023 besuchte die weltbekannte Schimpansen-Forscherin Jane Goodall die Community Kitchen. Sie riet Seyfarth, mit der Veränderung bei den Kindern anzusetzen, damit die ihre Eltern erziehen.

Bildung für nachhaltige Entwicklung

Bei Bildungsprojekten ist Seyfarth schon längst am Ball. Das Kitchen-Team klärt Schulklassen über Lebensmittelverschwendung und Klimawandel auf. Bei Aktionen wie dem jährlichen Girls’Day macht Seyfarth Schülerinnen Mut, selbst zu gründen. Das Beratungsunternehmen Deloitte hat diese Bildungsarbeit mit dem Hidden Movers Award ausgezeichnet.

Expansion geplant in München …

Mit ihrem Unternehmen will Seyfarth expandieren. Die Community Kitchen gewann die Ausschreibung für die Zwischennutzung einer 3.500 Quadratmeter großen Fläche am Hanns-Seidel-Platz in Neuperlach. Hier soll das Gleiche entstehen wie an der Fritz-Schäffer-Straße, nur eine Nummer kleiner. Seyfarth stellt sich eine „Food-Truck-Lösung“ vor.

… aber auch europaweit

Und schließlich arbeitet sie an einem „Global Food Rescue Franchise“-System. Dafür hat sie bei der „EIC Accelerator Open“ der EU einen Förderantrag über 2,5 Millionen Euro gestellt. Sollte das glattgehen, könnte es schon bald auch in Mailand und Barcelona eine Community Kitchen geben. Dass sie damit Geld verdienen will, hält Seyfarth für selbstverständlich: „Für mich hat das immer zusammengehört, das Soziale, das Nachhaltige und das Unternehmertum.“

Wie es läuft, „ist einfach großartig“

Am Ende des Gesprächs gibt es Kaffee und Schokokirschkuchen. Seyfarth erklärt, sie wolle auch politisch etwas bewegen. Der Abbau klimaschädlicher Subventionen sei ihr wichtig.

Dann wirkt sie einen Moment lang selbst überrascht, wie gut es hier läuft. Sie schaut sich um und sagt: „Es ist einfach großartig.“

DIE PROBLEMLÖSER
Ressourcenknappheit, Klimaschutz, Energieversorgung – das sind nur einige der gewaltigen Probleme, vor denen wir stehen. In Oberbayern gibt es zahlreiche Unternehmen, die diese Herausforderung annehmen: Sie entwickeln kluge Lösungen für die drängenden Aufgaben unserer Zeit. Das IHK-Magazin stellt diese Problemlöser in einer Serie vor.

Problemlöser WYE: Die Natur als Vorbild

Problemlöser Sharkbite: Helfen, dass es gut wird

Problemlöser ECOFARIO: Das Wunder muss warten

Problemlöser DeepDrive: Das Rad neu erfunden

Verwandte Themen